Dienstag, 14. November 2017

Wenn Du Angst hast, sing!


Letzte Nacht kam ich in die Wohnung zurück, es war schon lange dunkel geworden. Was hinter mir lag, wusste ich nicht mehr, ich war nur müde, ich wollte heimkommen, ich wollte Licht machen - also machte ich Licht. Und da war dieses Mädchen. Kleiner als ich, dunkle Haare wie ich, aber dunklere Augen als ich. Sie war so ernst, sie sprach kaum ein Wort, dafür sprach ich, leise, beruhigend, während sie mir ihre beiden Hände an die Kehle legte und fest zudrückte. Ohne dass sich ihre Mimik auch nur ein winziges Bisschen veränderte. Ohne dass sie auch nur irgendetwas sagte. 

"Nein!"
Habe ich im Traum gerufen oder in der Realität? Ich weiß es nicht, der Mann neben mir schläft.
Das Zimmer ist  dunkel, nur das schwache Licht des Radioweckers bricht sich an der halb offenen Tür. Ich kanns auf den Tod nicht haben, bei halb geöffneten Türen schlafen zu müssen. Ich kanns nicht. 
Dann werde ich das Gefühl nicht los, gleich würde jemand durch diese Tür kommen. Der nichts Gutes im Sinn hat. Niemand, der nachts fremde Wohnungen betritt, hat Gutes im Sinn. 
Das Mädchen aus dem Traum. Der Mann aus all den anderen Träumen, der, seit ich Kind bin, mit einem Messer nach mir wirft oder mich zu packen versucht oder auch sonstwie versucht, Schmerz zu verursachen oder gleich ganz das Lebenslicht auszulöschen. 
Nach diesem Traum der letzten Nacht war ich vollkommen durch, fühlte ich den pulsierenden Herzschlag bis kurz unter meinem Ohr und fand ich nur sehr schwer und auch nur noch sehr oberflächlich in den Schlaf.
"Ich kann nicht schlafen, wenn die Tür zu ist, dann fühle ich mich eingesperrt", klagt der Mann.
"Und ich kann nicht schlafen, wenn sie geöffnet ist, dann fühle ich mich so ausgeliefert", antworte ich.
"Ich beschütze dich."
Aber das kann er nicht. Weil er nicht da ist. Weil er nie da ist in den Träumen, in denen ich unterliege. Weil er nur da ist, wenn ich rechtzeitig erwache. Wenn ich erwache und sehe und fühle, dass er da ist, dass er neben mir liegt, dass er ganz ruhig liegt und auch ebenso ruhig atmet. Also alles gut. Alles gut, hör doch mal.
Und dann krieche ich zurück tief unter die Decke, ziehe sie mir bis an die Nasenspitze, beobachte argwöhnisch die halb geöffnete Tür und warte darauf, dass der wilde Herzschlag in meiner Brust wieder übergeht in den langsamen Takt. Warte darauf, dass die wilden Bilder in meinem Kopf aufhören zu kreiseln, die in meiner Vorstellung ermöglichen, dass Fremde sich in das Haus geschlichen haben. Dass Fremde sich in die zumeist menschenleere Tiefgarage geschlichen haben und nur darauf warten, dass... Wilde Bilder auch von wilden Fahrten auf den Autobahnen unter angekündigtem Schneefall - und allein schon der Gedanke an vermatschte, verschneite Autobahnen, verlängerte Bremswege, Ausrutschen, Weggleiten.. Alles schon gehabt. Nicht immer gut gegangen.
Es ist fast unglaublich, welch Blüten meine Phantasie um halb vier Uhr morgens treiben kann. Also stehe ich auf und hole mir einen Schluck kaltes, klares Wasser. Dieser Schluck, der mir ermöglicht, mich völlig von diesem letzten Traum und diesem komischen Mädchen und überhaupt all diesen dunkelgrauen Gedanken zu lösen. Die Augen zu schließen und einfach lieber nichts mehr zu träumen und vor allem nichts mehr zu denken. 

Es wird Morgen, der Mann neben mir regt sich verschlafen.
"Magst du auch einen Kaffee?"
"Oh ja bitte."
Es ist hell draußen, die Monster der letzten Nacht haben sich verflüchtigt, dankbar umfasse ich die Tasse Kaffee mit beiden Händen, genieße die ersten Schlucke und das entspannte Ankommen im Tag. 
Der Schnee der letzten Nacht ist getaut, doch der Morgen bringt neue Flocken. 
Ich gebe es zu: Ich fahre ausgesprochen ungern bei Schnee und Eis. 
Der Mann ist längst fort, als ich alles zusammengepackt habe, diesmal habe ich nichts vergessen, denke ich, als ich die Tür hinter mir zuziehe und den Schlüssel herumdrehe. Tief in mir ist alles ruhig, tief in mir fühle ich mich sicher, auch beim Betreten der Tiefgarage, beim Verlassen der Tiefgarage und dem Einfädeln in den grausamen Morgenverkehr einer lebendig gewordenen Großstadt. 
Ich spüre, wie ich mich verkrampfe. Und dann erinnere ich mich an früher.
Wie ich als Kind die Augen schloss, in der Ecke zwischen Wand und Schrank, in dem Glauben, wenn ich nichts sehe, dann sehen sie mich auch nicht. 
Wie ich als Kind sang, wenn ich den dunklen Weg allein zur Schule gehen musste oder abends nach Hause kam. Weil du dich nicht mehr so allein fühlst, wenn du dir selber etwas vorsingen kannst. Heute haben wir die Kopfhörer dafür - doch nein, es ist nicht dasselbe. 
Also beginne ich zu singen, während ich durch dieses Wetter fahre, durch Schnee, Schneeregen, Regen, Schneegraupel. Und so singe ich. Singe ich immer mehr. Und immer lauter. Und immer fröhlicher. Und erreiche nach einigen hundert Kilometer mein Ziel. Und kein Monster in Sicht.

Erst viel später fällt mir ein, dass ich das Wichtigste vergessen hab: Dir etwas an den Spiegel zu schreiben. 

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